Algorithmen und Kommunikationssysteme für die Zellulare Fördertechnik
Mit der zunehmenden Individualisierung von Produkten und der Möglichkeit zur globalen Beschaffung im privaten wie auch im geschäftlichen Bereich steigen die Materialflüsse überproportional an. Sowohl in der Industrie als auch im Handel wachsen Variantenvielfalt und Sortimentsumfang. Immer kürzer werdende Innovationszyklen und damit einhergehende reduzierte Produktlebenszyklen führen zum Einen zu wachsenden Artikelzahlen in den Distributionsnetzen und zum Anderen zu stark oszillierenden Auftragseingängen. In den Knoten der Distributionsnetze mit ihren Aufgaben der Kommissionierung und Verteilung von Waren entsteht ein kritischer Anstieg von Komplexität und Dynamik, der mit den heuristischen Lösungen heutiger Tage nicht mehr zu bewältigen ist. Zudem wird die Intralogistik dabei mit der Lösung des Zielkonfliktes zwischen maximaler Lieferbereitschaft und minimalem Bestand konfrontiert. Bei der materialfluss- und informationstechnischen Steuerung der Warenflüsse sowie bei deren Organisation setzt ein Wechsel in Richtung dezentraler, individueller, flexibler und adaptiver Lösungen ein. Diese Konzepte beschränken sich im Allgemeinen auf die Dezentralisierung der heutigen monolithischen Steuerungsarchitekturen, verwenden auf der Seite der Mechanik jedoch größtenteils klassische Fördertechnik.
Um die Potenziale der Dezentralisierung bzgl. Flexibilität, Robustheit und Wiederverwendbarkeit nicht nur im Bereich der Software nutzen zu können, muss auch die mechanische Auslegung von Materialflusssystemen angepasst werden. Dabei gilt es, die zahlreichen heterogenen und ortsfesten Komponenten eines typischen Stetigfördersystems wie Kurvenstücke, Weichen, Drehtische oder Pufferstrecken, durch einheitliche Module zu ersetzen, die autonom oder kooperativ alle notwendigen logistischen Aufgaben erfüllen können. Somit ergibt sich die Frage: „Wie kann ein Kollektiv kooperierender Fahrzeuge als Ersatz für konventionelle Fördertechnik eingesetzt werden?“ Dazu sind im Einzelnen die Fragen der zielgerichteten Führung, der Auftragsdisposition und der Ortung, Wegefindung, Kollisionsvermeidung sowie die Behandlung der Deadlockproblematik zu bearbeiten und adäquate Methoden und Algorithmen zu entwickeln sowie deren Praxistauglichkeit nachzuweisen.
Ein Ziel ist die Entwicklung praxisgerechter Algorithmen für den Betrieb einer fördertechnischen Anlage auf Basis eines kooperierenden Fahrzeugkollektivs einschließlich einer Simulationsumgebung. Diese Algorithmen sollen unter Anderem die Auftragdisposition, die kollisionsfreie Navigation sowie die termingerechte Erfüllung der Transportaufgabe gewährleisten. Wegen der komplexen Aufgabenstellung und dem mit einer physischen Realisierung verbundenen hohen Aufwand sollen die Algorithmen in einem Simulator getestet werden. Um eine hinreichende Modellierungstiefe zu erreichen, soll die Simulation auf physikalischen Modellen der Fahrzeuge, der Antriebe und der Sensoren basieren. Mit einer solchen Modellierungstiefe soll es möglich sein, die Algorithmen direkt in eine physische Umsetzung zu übernehmen. Ein weiteres Ziel ist die Bereitstellung eines zugeschnittenen Kommunikationssystems. Eine Grundvoraussetzung für den Betrieb eines solchen verteilten Systems ist die sichere und schnelle Kommunikation zwischen den beteiligten Einheiten. Da sich für die verschiedenen Vorgänge im System unterschiedliche Anforderungen bzgl. der zu übertragenden Datenmengen sowie der Zeit, die für die Kommunikation zur Verfügung steht, ergeben, sollen mehrere Kommunikationsmethoden zum Einsatz kommen. Der Fokus liegt dabei auf der Schaffung einer echtzeitfähigen Kommunikationsstruktur für die Koordination, Kooperation und Kollisionsvermeidung autonomer Fahrzeuge. Gerade für diese Aufgaben ist der Blackboard-Ansatz sehr gut geeignet. Dabei werden ein oder mehrere Informationsknotenpunkte von allen Systemteilnehmern als „schwarzes Brett“ für die Veröffentlichung und Sammlung von Informationen verwendet. Die Auswahl hierfür geeigneter Datenübertragungstechnologien sowie die Modellierung und Implementierung einer solchen verteilten Blackboardarchitektur für den echtzeitkritischen Bereich stellt das zweite Ziel des Projektes dar.
Anhand eines Referenzszenarios erfolgt zunächst die Bestimmung einzelner Prozessschritte, für die der Einsatz zellularer Fördertechnik in Frage kommt. Die prozessbedingten Anforderungen an die Fördertechnik werden analysiert und beeinflussen sowohl die technische Umsetzung der Fördertechnik inkl. Lastaufnahmemittel als auch die Kommunikations- und Steuerungskonzepte. Zudem sollen die Möglichkeiten eines bereichsübergreifenden Einsatzes zellularer Fördermittel eruiert werden. So könnten die autonomen Fahrzeuge beispielsweise je nach Auftragslast den Materialfluss sowohl im Warenein-/ausgang als auch in der Lagervorzone umsetzen.
Anschließend werden die Voraussetzungen für die Erprobung der Algorithmen geschaffen. Für das Fahrzeug soll dabei ein physikalisches Modell entwickelt werden, das die Kinematik des Fahrzeuges und seine Dynamik berücksichtigt. Insbesondere sind die Maschinendaten wie etwa Rad- und Achsabstand parametrierbar. Auf dieser Basis kann das Regelungskonzept für das Fahrzeug entwickelt und optimiert werden. Für das Fahrzeug als Träger der Sensoren muss in seinem Modell auch die geometrische Anordnung der Sensoren berücksichtigt werden. Die am Fahrzeug zu installierenden Sensoren werden ebenfalls modelliert. Die Simulationsumgebung besteht aus einer Halle mit feststehenden Hindernissen und mit frei definierbaren Lastaufnahme- und Lastabgabestationen. In dieser Umgebung kann eine vorzugebende Anzahl von Fahrzeugmodellen mit parametrierbaren Sensormodellen frei verfahren. Dabei können die Fahrzeuge beispielsweise lokale Ausweichmanöver fahren und in Kooperation mit ihren Nachbarfahrzeugen vorausschauend ausweichen, Konfliktsituationen vermeiden oder Deadlocksituationen auflösen. Die Algorithmen, die im Rahmen dieses Vorhabens untersucht werden sollen, beziehen sich auf den Betrieb eines Kollektivs von Fahrzeugen. Die Modelle und der Simulator verfügen über Schnittstellen, die eine einfache Anbindung der Algorithmen erlauben. Damit steht ein Rahmen zur Verfügung, der auch nach Abschluss dieses Vorhabens Anpassungen und Optimierungen der Algorithmen erlaubt. Um die vielfältigen und teilweise auch komplexen Algorithmen im Rahmen dieses Projektes zu bearbeiten, kann auf die Erfahrungen aus den oben angegebenen Projekten zurückgegriffen werden. In Zusammenhang mit der Navigation wird angestrebt, die Sensoren, die für die Kollisionsvermeidung eingesetzt werden, auch zur Unterstützung der Navigation einzusetzen. So kann durch Sensorfusion in Verbindung mit einer grobmaschigen Absolutnavigation ein kostengünstiges Navigationssystem entstehen. Trotz optimierter Wege und Implementierung eines autonomen Ausweichverhaltens kann es zu Deadlocksituationen kommen, welche von den Fahrzeugen erkannt und aufgelöst werden sollen. Die Auftragszuweisung an einzelne Fahrzeuge soll durch ein verteiltes Dispositionsverfahren auf der Basis der Blackboard-Implementierung erfolgen.
Parallel zur Entwicklung der Algorithmen soll der für den Betrieb eines autonomen Fahrzeugkollektivs notwendige Informationsaustausch untersucht werden. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen zur Entwicklung eines geeigneten Kommunikationskonzepts und der Realisierung einer effizienten Kommunikationsinfrastruktur. Für eine sinnvolle Datenverteilung innerhalb eines selbstgesteuerten Materialflusssystems müssen die vorhandenen Informationen zunächst analysiert und klassifiziert werden. Anschließend erfolgt die Auswahl geeigneter Kommunikationstechnologien und Datenformate für die einzelnen Kategorien.
Die Speicherung und Bereitstellung echtzeitkritischer und auf den Wissensbedarf einzelner Bereiche zugeschnittener Informationen soll von effizienten und anlagennahen Instanzen übernommen werden. Auf Grundlage der zuvor festgelegten Technologien und Protokolle erfolgt daher die Entwicklung dezentraler Informationsknotenpunkte, die nach dem Modell eines „schwarzen Bretts“ (Blackboard) als Datenaustauschplattform für die autonom agierenden Fahrzeuge fungieren. Durch die Entkopplung von Sender und Empfänger führt dies zu einer Verringerung der Systemkomplexität. Jedes Modul ist für seine eigene Aufgabe und die Beschaffung bzw. Veröffentlichung der relevanten Daten selbst zuständig. Ein Informationsknotenpunkt ist dabei so gestaltet, dass er beliebige Daten aufnehmen und bereitstellen kann und Grundfunktionalitäten zur Datenverwaltung bietet. Durch eine Verteilung der Datenaustauschplattform sollen Nachteile zentraler Blackboards in Bezug auf die Robustheit des Gesamtsystems und der Performance eliminiert werden. Abschließend sollen sämtliche Funktionen der autonomen Fahrzeuge inkl. der Fahrzeuglogik sowie die Blackboard-basierte Kommunikationsinfrastruktur anhand von Fahrzeugmodellen und autonomen Softwareprogrammen überprüft werden.
Die Forschungsergebnisse lassen sich in zwei Kategorien gliedern. Einerseits wurden praxisgerechte Steuerungsalgorithmen für die Fahrzeuge einer Zellularen Fördertechnik entwickelt. Diese Algorithmen haben sich auch bereits im Einsatz auf realen Fahrzeugen bewährt. Das Prinzip einer permanenten Bahnplanung hat sich bewährt. Für den Test der Algorithmen wurde eine Simulationsplattform mit physikalischen Fahrzeug-, Antriebs- und Sensormodellen erstellt.
In einem zweiten Schwerpunkt wurden Kommunikationssysteme für den Datenaustausch innerhalb des Fahrzeugkollektivs bzw. mit peripheren Einrichtungen konzeptioniert. In diesem Zusammenhang erfolgte eine Analyse der in einem Materialflusssystem vorhandenen bzw. benötigten Informationen und eine Ableitung der für die Fahrzeuge einer Zellularen Fördertechnik relevanten Daten. Um die zuverlässige Übertragung dieser Daten zu gewährleisten, wurde in einer breit angelegten Recherche nach geeigneten Funkstandards, Protokollen und Datenformaten gesucht. Durch eine Bewertung der gefundenen Lösungsalternativen hinsichtlich zuvor definierter Kriterien erfolgt eine Eingrenzung der Kommunikationsinfrastruktur einer Zellularen Fördertechnik. Ergänzend erfolgte die Implementierung von Informationsknotenpunkten (Blackboards) als zusätzliche Komponente der Kommunikationsinfrastruktur. Blackboards sorgen durch eine Entkopplung von Sender und Empfänger für eine Verringerung der Kommunikationslast im Gesamtsystem und beugen somit Überlastungen vor.
Zusammengefasst stellen die entwickelten Algorithmen und Kommunikationssysteme das Fundament für die Fahrzeugsteuerung und den Datenaustausch in zukünftigen Umsetzungen Zellularer Transportsysteme für den industriellen Einsatz dar.
- Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, Dortmund
- Engel Elektroantriebe GmbH
- Götting KG
- LinogistiX GmbH
- Softing AG
- Weissenburg Industrietechnik
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